2009 ist ein spezielles Jahr für die Zürcher Löwen. Zumindest auf internationalem Parkett: Nach dem Triumph in der Champions Hockey League Ende Januar gegen das russische Top-Team Magnitogorsk im Rapperswiler Lido dürfen sie sich am 29. September gegen Konkurrenz aus Übersee beweisen, und das erst noch zu Hause in Oerlikon. Gegner im Rahmen des Victoria Cup ist nicht irgendwer, sondern mit Chicago Blackhawks eine traditionsreiche Franchise aus der National Hockey League (NHL). ZSC-Fans, die am Stammtisch gerne einen Jass (und nebenbei Sprüche) klopfen, sind sich nach der dritten Runde Bier trotz Vereinstreue einig: «Der ZSC ist chancenlos.»
Diese Einschätzung kommt nicht ohne Grund: Quasi als Aufgalopp schicken die Blackhawks mit den Jungstars Patrick Kane und Jonathan Toews tags zuvor im Hallenstadion im Testspiel den HC Davos mit einer 9:2-Packung zurück ins Landwassertal. Doch 24 Stunden später kommen die fast 10’000 Fans aus dem Staunen nicht mehr heraus: Die Zürcher, hervorragend eingestellt vom Trainer-Duo Sean Simpson/Colin Muller, zeigen in der schmuck herausgeputzten Halle vom ersten Bully an eine engagierte Vorstellung gegen das hochkarätige Team aus «Windy City» aus dem US-Bundesstaat Illinois.
Ein Zürcher wird MVP des Spiels
Zwar geht der Favorit aus Übersee durch Cam Barker früh in Führung, was den Löwen jedoch nicht den Mut raubt. Flügelrakete Patrik Bärtschi wird nur wenige Minuten später meisterhaft von Thibaut Monnet eingesetzt und erzielt auf akrobatische Weise das 1:1. Bei Chicagos Goalie Cristobal Huet werden nach diesem spektakulären Treffer Erinnerungen an schmerzliche Niederlagen im Hallenstadion wach, als er noch das Tor des HC Lugano hütete. Das Zürcher Publikum geht begeistert mit, der ZSC kämpft rigoros, die NHL-Stars sind von der Gegenwehr sichtlich überrascht. Als es Captain Mathias Seger mit dem 115 Kilogramm schweren Hünen Dustin Byfuglien im Infight aufnimmt, tobt die Halle. Es ist der Beweis, dass der Europachampion die Affiche sehr ernst nimmt.
Im Mitteldrittel trifft Seger den Pfosten. Doch als der defensiv bewährte Lukas Grauwiler im Stile eines Topskorers nach Vorarbeit von Cyrill Bühler das 2:1 schiesst, ist auf den Rängen der Teufel los und der Glaube an eine Sensation gestiegen. Im Schlussdrittel hätte der Underdog die Führung ausbauen können. Bärtschi, danach zum MVP des Spiels benannt, scheitert kurz vor Schluss mit einem Penalty an Huet. Trotzdem siegt der Europameister gegen den Favoriten 2:1. Im Hallenstadion bricht nach der letzten Sirene kollektiver Jubel aus, die Lions-Spieler bestürmen ihre finnische Wand, Goalie Ari Sulander. Wie schon in der Champions Hockey League hat die Simpson-Equipe für einen Meilenstein gesorgt: Erstmals hat ein Schweizer Klub ein NHL-Team besiegen können.
Grosse Resonanz hüben wie drüben
Das Echo auf die sportliche Sensation blieb nicht aus. Der Tages-Anzeiger hielt euphorisch fest: «Die ZSC Lions demonstrierten an diesem Abend für die Eishockeyhistorie, was mit Aufopferung, Disziplin, Teamwork und Glaube alles möglich ist. Sie zeigten die wohl grösste Leistung, die einer Schweizer Mannschaft je gelungen ist.» Die NZZ lobte: «Die Zürcher traten kämpferisch tadellos auf, von der ersten Sekunde an spielten sie selbstbewusst und aggressiv. Sie warfen sich in die Schüsse, verbissen sich in die Zweikämpfe und forcierten das Tempo.» Die Basler Zeitung wunderte sich über den Erfolg des Vereins östlich vom Bözberg-Pass: «Das nächste Wunder auf Zürcher Eis.» Das Fachmagazin Slapshot fasste den Abend kulinarisch zusammen: «Aggressive Löwen fressen die Blackhawks!» Der Blick ehrte den Löwen-Trainer: «Sean Simpson hat erneut unter Beweis gestellt, dass er der Mann für internationale Aufgaben ist.»
Die Homepage der NHL bezeichnete das Resultat als einen «Schweizer Schock». «Nach einer erstaunlichen Niederlage gegen die ZSC Lions um den Victoria Cup suchten die Chicago Blackhawks Dienstagnacht nach Antworten.» Der Internationale Eishockeyverband (IIHF), der diesen Wettbewerb ins Leben gerufen hatte, war ebenfalls überrascht über den Ausgang des Duells: «Die ZSC Lions sind ganz oben angekommen. Aber sie bereiteten sich auch gut vor.» Chicagos schwedischer Verteidiger Niklas Hjalmarsson wollte den Sieg des Aussenseiters nicht schmälern, meinte jedoch: «Wir haben den Gegner wohl unterschätzt. Sie wollten den Sieg mehr als wir – ganz einfach.» MVP Patrik Bärtschi erklärte schmunzelnd in die Mikrofone: «Die Blackhawks sind individuell gewiss stärker als wir. Aber wir haben das mit Einsatz und Teamgeist wettgemacht.»
Monate später lachten allerdings die Verlierer vom 29. September 2009. Während Simpsons Männer in der Playoff-Viertelfinalserie 2010 am EV Zug scheiterten (3:4), gewannen die Blackhawks im Sommer zum vierten Mal in der Geschichte den Stanley Cup. 2013 und 2015 wiederholten sie den Triumph. Der Victoria Cup, in dem nur um Ruhm und Ehre gekämpft wurde, verschwand von der Bildfläche. Eigentlich schade.


















